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Nachbarn
Früher traf man ihn oft auf dem Teltower Damm. Er saß vor dem Supermarkt
oder vor einem der zahlreichen Telefonläden. Die Schultern gegen die Mauer neben den Schaufensterscheiben
gepresst (immer achtete er darauf, nie direkt an der Scheibe zu sitzen), die Arme waren um den Oberkörper
geschlungen. Mal ging der Blick ins Leere, mal, und das war weitaus häufiger, starrte er mit einem trunkenen
Grinsen auf die kopfschüttelnd vorübergehenden Passanten.
Wie alt mochte er sein? Auf den ersten Blick schien er die fünfzig Jahre hinter sich gelassen zu haben. Der
zweite Blick ließ erkennen, dass er weitaus jünger sein musste. Wenn er hin und wieder seine Stimme
erhob um irgend etwas trunken genuscheltes zu flüstern, konnte der aufmerksame Zuhörer erkennen, dass
er irgendwo aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen musste.
Meistens dauerte es nicht lange und er sank in sich zusammen, sinnlos betrunken, unfähig zu gehen, zu stehen
oder zu sprechen. Und oft dauerte es nicht lange bis ein Funkwagen erschien, zwei Beamte ausstiegen, sich Handschuhe
überstreiften und auf den mit Erbrochenem oder mit Blut verschmutzten zugingen. Nach langem Palaver wurde
er dann mitgenommen- die Straße war „gesäubert“, der Passantenfluß konnte sich ungehindert den
Weg bahnen, nichts störte mehr die Entwicklung ungehinderter Kauflust. Und die Kinder. Sie wurden nicht länger
damit konfrontiert, dass es in diesem Leben nicht nur die heile Welt zwischen Kinderzimmer und Kindergarten gibt.
Der Zeitungshändler, dessen Laden er regelmäßig aufsuchte um sich mit Alkoholnachschub einzudecken
konnte einen kleinen Zipfel um das Geheimnis des Mannes lüpfen. Demnach handelte es sich um einen osteuropäischen
Handwerker. Verheiratet, mit zwei kleinen Kindern gesegnet und glücklich in die Zukunft sehend. Sonntags wurde
die Kirche besucht, seine Frau und die Kinder waren der gesamte Lebensinhalt. Stolz, Freude und Halt seines Lebens.
Ein durch und durch geordnetes Leben.
Eine Sekunde zerstörte all das. Wie er erzählte, hat ein betrunkener Autofahrer die beiden Kinder von
seiner Hand weggerissen und durch die Luft geschleudert. Wie von Sinnen rannte er erst zu dem einen, dann wieder
zu dem anderen und schluchzend wieder zurück. "Die Kinder, meine Kinder"!
Vergebens. Sie starben beiden in seinen Armen während der Autofahrer schwankend
und töricht grinsend an seinem Auto lehnte.
Der Vater, ein Hüne von einem Mann, verlor die Nerven. Tränenblind stolperte er auf den Fahrer zu. Das
Herz zerrissen und vor Schmerz unfähig klar zu denken schlug er wie von Sinnen auf den Mann ein. Er kam erst
wieder zu sich, als herbeigerufene Polizisten ihn mit Mühe weg zerrten.
Nachdem er eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hatte kam er nicht mehr in seine Wohnung. Dort wohnte
seine Frau jetzt mit einem anderen Mann.
Die Odyssee begann. Teufel Alkohol streckte seine Fänge nach ihm aus, doch
das Vergessen wollte sich nicht einstellen.
Viele Menschen haben Leichteres, viele haben Schwereres erlebt. Manch einer ist dem Alkohol verfallen, einige haben
es mit Drogen versucht, die meisten haben sich irgend wann gefangen.
Und auch diese Geschichte zeigt einen winzigen Silberstreif am Horizont.
Unser Mann sitzt immer noch auf der Straße. Wir sehen ihn jetzt oft in
der Martin. Buber- Straße vor Reichelt. Oft lächelt er. In den Händen hält er eines dieser
Obdachlosenmagazine und es hat nicht den Anschein, als wolle er sich von dem Erlös des Verkaufs mit Alkohol
eindecken.
Für einen Menschen der ganz weit unten war, ist es oft schon ein gewaltiger Schritt, wenn er nur noch unten
ist. Es liegt auch ein bisschen an uns allen, ob aus dem Schritt von unten in die so genannte Normalität jetzt
kein Stolpern wird.
Peter Bauer
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