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Das Zipfelchen des Fabrikanten
Seit ein paar Tagen renne ich mit dick verbundenem Daumen durch die Gegend. Schuld
hat Wurstfabrikant S. und seine höllische Produktverpackung.
Im Regal des Supermarktes sah das Päckchen mit Lachsschinken noch sehr verführerisch aus. Zu Hause stellten
sich sehr schnell ernste Probleme ein. Das Öffnen der nach allen Regeln modernster Verkaufsförderung
gestalteten Verpackung erforderte offensichtlich den ganzen Mann. Ein kleiner Pfeil deutete auf ein Zipfelchen
in der linken Ecke, vermittels dessen man durch Anheben und Abziehen an den begehrten Inhalt gelangen sollte.
Wie einfach. Leider stellte sich schnell heraus, daß das Zipfelchen des Fabrikanten S. zu kurz geraten war.
Es gelang einfach nicht, darunterzufahren und es zu bewegen. Hier waren entschlossene Maßnahmen angesagt.
Während mein Magen langsam protestierend zu knurren begann, griff ich zur Papierschere, schalt mich aber schnell
einen Narren. Die gute Papierschere, fettbesudelt und mit Resten von Lachsschinken? Das geht nicht! Im Besteckkasten
fand sich ein Filettiermesser, sehr lang, sehr sehr schmal und sehr scharf. Ich setzte es an.
Nachdem der erste Schmerz abgeklungen war, bemerkte ich aus den Augenwinkeln unsere Kinderchen, die sich scheu
an die Küchenwand drückten und ihren Papa mit großen Augen beobachteten. Gleichzeitig eilte die
geduldige Gefährtin mit dem Verbandskasten herbei. Auf dem Tisch lag die Packung mit Lachsschinken. Sie war
unversehrt.
Mit dem überlegenen Lächeln der erfahrenen Hausfrau griff die geduldige Gefährtin danach, um sich
ihrerseits des widerspenstigen Zipfelchens des Fabrikanten S. anzunehmen. Leider stellte sich schnell heraus, daß
es auch der kundigen Hand weiblicher Erfahrung zu widerstehen vermochte.
Der Ausdruck des überlegenen Lächelns auf ihrem Gesicht wich sehr bald hektischer Betriebsamkeit und
endete schließlich in tiefer Resignation. Hand in Hand saßen wir vor der Packung mit Lachsschinken,
der Verband um meinen Daumen färbte sich langsam blutrot, hinter uns standen wortlos die Kinder und legten
ihre Arme auf meine Schulter.
Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild des Wurstfabrikanten S., der, umgeben von Packungen mit Lachsschinken,
Cervelatwurst und anderen Erzeugnissen, ängstlich bemüht ist, sein Zipfelchen vor dem kecken Zugriff
des Verbrauchers zu schützen.
Bei mir ist ihm das erfolgreich gelungen. Im Übrigen fallen mir im Supermarkt immer mehr Menschen auf, deren
Daumen verbunden ist und die sich mit vernehmlich knurrendem Magen in die Schlange derer einreihen, die vor der
Wursttheke mit den unverpackten Produkten stehen.
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